Will die EU nicht verlassen, sondern "erobern": Ungarns Premier Viktor Orbán.
Foto: Reuters / Yves Herman

Rechtspopulistische Parteien sind in Europa zweifellos im Aufwind. Sie sind derzeit in fünf Regierungen präsent oder unterstützen sie parlamentarisch. Auch in Ländern, die vor kurzem noch gegen dieses Virus immun schienen, wie Deutschland, Spanien und Portugal haben solche Parteien inzwischen beträchtlichen Einfluss gewonnen. Umfragen sehen für die Europaparlamentswahl im Juni ebenso weitere Gewinne voraus wie für die bevorstehenden nationalen Wahlen in Belgien und Österreich.

Carnegie Europe hat die Europapolitik von 14 rechtspopulistischen Parteien in der EU durchleuchtet. In dieser Studie zeigte sich, dass zwar die früher häufigen Forderungen nach dem Austritt aus der EU oder der Eurozone weitgehend verstummt sind, sich aber an der tiefgreifenden Skepsis dieser Parteien gegenüber der europäischen Integration nichts geändert hat. Heute treten sie mit dem Anspruch an, die EU von innen umzubauen. Ungarns Premier Viktor Orbán formuliert es griffig: "Unser Plan ist nicht, die EU zu verlassen. Unser Plan ist, sie zu erobern."

Widersprüchliche Ziele

Viele dieser Parteien sprechen sich für ein "Europa der Nationen" aus. Die wirtschaftlichen Vorteile der EU sollen erhalten bleiben, aber die EU soll Kompetenzen an die Mitgliedsstaaten zurückgeben und sich nicht mehr in deren innere Verhältnisse einmischen. Rechtspopulistische Parteien wollen den Einfluss der Kommission zugunsten zwischenstaatlicher Zusammenarbeit zurückdrängen und sprechen sich für den Vorrang des nationalen Rechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht aus. Insgesamt geht es ihnen darum, die volle Souveränität der Nationalstaaten wiederherzustellen und sie gegen den Zugriff des Brüsseler "Bürokratiemonsters" abzusichern.

Dieses Konzept ist in sich widersprüchlich. Der wirtschaftliche Erfolg der Union ist ein Ergebnis des Binnenmarkts, der auf einer umfassenden, verbindlichen Gesetzgebung beruht, die von unabhängigen Institutionen überwacht und fallweise auch gegen den Willen einzelner Mitgliedsstaaten durchgesetzt wird. Der Binnenmarkt erfordert auch ein intensives Zusammenwirken der nationalen Verwaltungen und Justizsysteme, was ebenfalls einheitliche Standards und deren Überprüfung voraussetzt. Eine Rückkehr Europas zur traditionellen staatlichen Souveränität würde auch die Fragmentierung seiner Wirtschaft und katastrophale Folgen für Wohlstand und Lebensqualität nach sich ziehen.

"Sie brauchen die EU als Feindbild, um ihre nationalistische Propaganda zu befeuern."

Bezeichnenderweise bleiben populistische Rechtsparteien vage, wie sie sich die Umsetzung ihrer europapolitischen Ziele vorstellen. Nur vereinzelt ist zwar von einer Neuverhandlung des EU-Vertrags die Rede. Allerdings scheinen weder die Widersprüchlichkeit ihrer Zielsetzungen noch deren mangelnde Durchsetzungschancen diese Parteien besonders zu stören. Sie brauchen die EU ja vor allem als Feindbild, um ihre nationalistische Propaganda zu befeuern.

Dennoch wäre es verkehrt, die von diesen Parteien ausgehende Gefahr herunterzuspielen. Sie werden zwar den Rückbau der EU zu einer losen Staatenunion nicht direkt durchsetzen können, haben jedoch gute Chancen, die Weiterentwicklung der EU und damit adäquate Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu behindern und so mittelfristig auch die Akzeptanz für die europäische Integration zu untergraben.

Mehr Blockaden

Ein starkes Abschneiden solcher Parteien bei der Europaparlamentswahl könnte die Klimapolitik der Union schwächen und die Chancen für einen verantwortlichen Umgang mit dem Migrationsthema weiter verringern. Noch problematischer wäre es, wenn weitere Politikerinnen und Politiker aus diesem Lager im Europäischen Rat und im Ministerrat Platz nehmen. In der Frage der EU-Unterstützung für die Ukraine hat sich herausgestellt, dass Orbán Entscheidungen zwar verzögern, aber kaum blockieren kann, wenn er einer geschlossenen Front der übrigen Mitgliedsstaaten gegenübersteht. Falls er in Zukunft eine Reihe Verbündeter findet, dürfte es bei wichtigen Anliegen der EU zu immer mehr Blockaden kommen.

Auch die Entsendung rechtspopulistischer Politikerinnen und Politiker in die Kommission könnte das unabhängige Agieren dieser Institution und damit ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen. Dies zeigte bereits das Verhalten des ungarischen Kommissars Olivér Várhelyi, dem sowohl in der Balkanpolitik als auch in der Gaza-Frage vorgeworfen wurde, eher eine ungarische als eine europäische Agenda zu betreiben.

In der Minderheit

Rechtspopulistische Parteien haben zuletzt an Boden gewonnen, aber sie sind noch immer eine Minderheit im europäischen politischen System, die zudem aufgrund unterschiedlicher nationaler Interessen und parteipolitischer Rivalitäten Spaltungen aufweist. Wie groß die Bedrohung für Europa ist, die von ihnen ausgeht, hängt weitgehend vom Verhalten der Parteien der Mitte ab. Diese müssen der Versuchung widerstehen, Konzepte und Rhetorik der Rechtspopulisten nachzuahmen, um weitere Wählerinnen- und Wählerabflüsse nach rechts zu verhindern. Sie sollten sich im Gegenteil der inhaltlichen Auseinandersetzung stellen. Angesichts der aktuellen geopolitischen Bedrohungen, der Klimakrise und des verschärften globalen wirtschaftlichen Wettbewerbs waren die Argumente für europäische Lösungen noch nie so stark wie heute.

Einen Rückfall in Nationalismus und Zersplitterung kann sich Europa nicht leisten. Wenn Parteien, die den liberalen demokratischen Grundwerten verpflichtet sind, diese Debatte in den nächsten Wochen substanziell und engagiert führen, dann können sie diese Europaparlamentswahl überzeugend gewinnen. (Stefan Lehne, 8.5.2024)