Leo* und Julia* haben alles, was Pflegekinder brauchen: eine liebevolle Beziehung, ein stabiles Heim, einen Kinderwunsch und sogar eine Ausbildung für diese schwierige Aufgabe, die sie Ende 2022 abgeschlossen haben. Seither warten sie verzweifelt – dass ihre Sozialarbeiterin ans Telefon geht oder sie zurückruft.

Zwei Kinder sind von hinten zu sehen und schauen durch ein Fenster hinunter auf die Straße
Wien sucht mittelfristig rund 100 Plätze für Pflegekinder. Wer in Niederösterreich kein Kind bekommen hat, konnte sich in Wien bewerben – zumindest bisher.
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Mittlerweile hat das Paar die Hoffnung fast aufgegeben. "Wir haben sogar über eine Leihmutterschaft in den USA nachgedacht", sagt Leo. Nur zwei der Paare aus ihrem Pflegeelternkurs haben bisher ein Kind bekommen, das weiß er aus der gemeinsamen Whatsapp-Gruppe. "Wenn man so lange wartet, erst auf ein leibliches Kind, dann auf eines zur Pflege – irgendwann erträgt man es nicht mehr."

Dabei ist der Bedarf an Pflegeeltern groß. In Wien werden mittelfristig rund 100 Plätze gesucht. Aber Leo und Julia wohnen im falschen Bundesland – in Niederösterreich. Dort gibt es weniger Kinder, und es fehlt den zuständigen Stellen an Personal. Die Wiener Behörden schrecken jedoch davor zurück, Kinder nach Niederösterreich zu vermitteln; die nötige Nachbetreuung funktioniert nicht ausreichend. Eine unsichtbare Landesgrenze verhindert das Familienglück.

Angst vor Konsequenzen

In Niederösterreich sind die Sozialarbeiter der Bezirkshauptmannschaften zuständig. Sie übernehmen die Kindesabnahmen, machen die Eignungsüberprüfungen von Pflegeeltern und begleiten Pflegekinder in ihre neuen Familien. Ihre Terminkalender sind voll, zu voll. Das bestätigt ein Sozialarbeiter, der bereits in Pension ist und anonym bleiben möchte: Die Kollegen seien derart eingedeckt, dass oft keine Zeit bleibt, Kinder zu vermitteln.

Neben Leo und Julia haben auch andere Betroffene mit dem STANDARD gesprochen. Sie alle wollen anonym bleiben, auf keinen Fall erkannt werden. Zu groß ist die Angst, dass sie erst recht kein Kind bekommen, wenn sie an die Öffentlichkeit gehen. Manche der Paare haben Fehlgeburten erlebt. Sie würden es nicht ertragen, einen neuerlichen Verlust zu erleben und die Vorstellung von einem Pflegekind, die sich während ihrer Ausbildung aufgebaut hat, wieder in sich zusammenfallen zu sehen.

"Wir haben das Haus, wir haben die Liebe, wir könnten einem Kind ein schönes Zuhause schenken", sagt auch Susanne*. Sie und ihr Partner Lukas* haben während ihrer Ausbildung immer wieder mehrere Monate warten müssen: "Die Mitarbeiter können nichts dafür. Unsere Sozialarbeiterin war ein echter Engel, aber sie hatte abartig viel zu tun."

Die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe des Landes Niederösterreich schreibt dem STANDARD dazu in einer Stellungnahme: Die Vermittlung müsse aufgrund der Bedürfnisse der Kinder eine passgenaue Lösung sein, dafür sei eine individuelle Auswahl der Pflegeeltern nötig. So könne es zu Wartezeiten kommen. Eine Pflegefamilie sei jedoch die beste Form der Unterbringung; nur wenn Eltern oder Kind nicht ins Profil passten, müsse es in einer Wohngemeinschaft untergebracht werden.

Keine zentrale Zuständigkeit

Drei bis fünf kostenlose Kurse für Pflegeeltern werden in Niederösterreich jährlich angeboten, in jedem ist Platz für rund zehn Paare oder Personen. Durchgeführt werden sie vom Verein "Peter Pan Pflege & Adoption". Geschäftsführerin Gabriele Wied weiß, dass es in Niederösterreich immer wieder zu Schnittstellenproblemen bei der Vergabe von Pflegekindern kommt. Das liege auch daran, dass es – anders als in Wien – keine zentral dafür zuständige Stelle gibt. Immer wieder gebe es auch Eltern, die nicht besetzt werden können, eine Wartezeit von eineinhalb Jahren ist laut Wied nicht außergewöhnlich.

Haben ausgebildete Pflegeeltern in Niederösterreich ein halbes Jahr erfolglos auf ein Pflegekind gewartet, können sie sich nach Freigabe ihrer Behörde in Wien bewerben. Für viele bedeutet das einen großen Hoffnungsschimmer. Doch auch der ist zuletzt verblasst. Mehrere Paare aus Niederösterreich haben, teilweise nachdem sie schon Gespräche mit der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) geführt hatten, eine Absage erhalten. Aufgrund der angespannten personellen Lage sei es derzeit nicht möglich, Pflegekinder von Wien nach Niederösterreich zu vermitteln, heißt es in einem Brief.

Marlene* und Peter* haben so ein Schreiben erhalten: "Immer wieder haben wir gehört, dass man in Wien sofort ein Pflegekind bekommt, weil es so viele gibt." Als dann die Absage kam, sei "auf einmal alles zusammengebrochen". In einem Telefonat mit ihrer Sozialarbeiterin in Wien habe diese ihnen erklärt, dass die Vermittlung von Kindern in die Bundesländer aufgrund des Personalmangels nicht weiter verfolgt werde. Sie allein habe schon 50 Pflegekinder zu betreuen.

"Man will etwas Gutes machen, aber es scheitert am System. Daran, dass keine Leute da sind oder kein Geld", sagen Marlene und Peter. Diejenigen, die draufzahlen würden, seien die Pflegekinder. Die beiden vermuten, dass nun weniger Kinder in Pflegefamilien kämen und stattdessen in WGs untergebracht würden. "Wir werden auch ohne Kind weiterleben, sicher, aber es wäre so schön gewesen, wenn es funktioniert hätte."

Fälle auch im Burgenland

Susanne und Lukas sagen: "Es ist natürlich ein Wahnsinn, wenn man liest, dass in Wien Pflegeeltern dringend gesucht werden. Nur ein paar Kilometer weiter sind Familien da, die alle sofort ein Kind aufnehmen würden." Sie haben ebenfalls "gedanklich damit gerechnet", dass sie ein Kind aus Wien aufnehmen können. Auch aus dem Burgenland liegen dem STANDARD Fälle vor, in denen wartenden Pflegeeltern von der MA 11 abgesagt wurde. Etwa einer Mutter, die sogar bereit wäre, ein älteres oder ein Kind mit Handicap aufzunehmen.

Von offizieller Seite wird in Niederösterreich und Wien dementiert, dass die Vermittlung in die Bundesländer komplett eingestellt wurde. Es seien aber weniger Kinder, bestätigt Wien. Grund sei eine Kritik des Stadtrechnungshofes, wonach "die Kinder entwurzelt würden", erklärt Ingrid Pöschmann, Sprecherin der MA 11. "Uns ist wichtig, dass die Kinder in Wien in ihrer gewohnten Umgebung bleiben."

Kindeswohl in Gefahr

Beim Stadtrechnungshof dementiert man eine solche Empfehlung. Man gebe keine pädagogischen Ratschläge, sagt eine Sprecherin. Auch in einem Prüfbericht ist zu lesen, dass die Probleme woanders liegen. Dort wurde erhoben, dass der letzte Besuch einer Sozialarbeiterin in den Pflegefamilien in vielen Fällen vor über einem Jahr, in einigen vor über drei Jahren stattgefunden habe. Derlei könne das Kindeswohl gefährden.

Diese Besuche sind Aufgabe des Bundeslandes, in dem die Kinder untergebracht sind. Aus Niederösterreich heißt es dazu, die Kontrollen hätten nur in Ausnahmefällen nicht stattgefunden, etwa aufgrund der Pandemie – oder seien auf anderem Wege passiert. Der Stadtrechnungshof empfahl dennoch, bundesländerübergreifende Pflegeverhältnisse neu zu strukturieren. Das bestätigt, was auch Insider berichten: dass die Zusammenarbeit zwischen Wien und Niederösterreich überhaupt nicht funktioniert.

Allen Eltern, die in Wien vertröstet wurden, rät MA-11-Sprecherin Pöschmann, sich erneut zu melden: "Wir weisen niemanden ab." Auch gebe es eine interne Beschwerdeinstanz sowie die Option, sich an den Volksanwalt zu wenden. Beide Stellen könnten überprüfen, ob eine Ablehnung gerechtfertigt sei. Zur Personalsituation heißt es: Es gebe ein erhöhtes Arbeitsaufkommen, aber alle kämen dran. Bis man einen Termin bekomme, könne es aber länger dauern.

Schlechtere Chancen

Dass Wien die Anzahl der Pflegekinder, die nach Niederösterreich vermittelt werden, reduzieren will, hat Wied, die dort Pflegeeltern ausbildet, das erste Mal vom STANDARD erfahren. "Sozialarbeiterkapazitäten kosten einen Bruchteil von Heimplätzen", sagt sie. Zudem sei fachlich gut belegbar, dass junge Kinder ohne familiäre Bindung weit weniger Chancen haben, sich psychisch gesund zu entwickeln. Sie hält es daher für nicht nachvollziehbar, dass durch Bundesländergrenzen und Sparmaßnahmen womöglich riskiert wird, dass kleine Kinder in WGs untergebracht werden müssen.

Die MA 11 dementiert ein solches Vorgehen. Derzeit schaffe man es, alle Null- bis Dreijährigen in Pflegefamilien unterzubringen, und eine aktuelle Kampagne soll auch künftig mehr Menschen dazu motivieren, sich als Pflegeeltern zu melden.

Jene Pflegeeltern, die seit vielen Monaten warten, können darob nur die Köpfe schütteln. Bei Leo und Julia haben sich derweil die Pläne geändert. Die Leihmutter in den USA hatten sie schon gefunden, mussten ihr aber dann doch absagen – aus einem unerwarteten Grund: Julia war selbst schwanger. Ihr Kind kommt im August zur Welt und macht die beiden endlich zu Mama und Papa. (Bernadette Redl, 19.5.2024)